Eine Reise beginnt
Juni 2014. Ich bin als Reiseleiterin mit einer siebenköpfigen Gruppe knappe drei Wochen lang durch Sumatra unterwegs. Wie für die meisten Sumatra-Besucher beginnt auch unsere Reise in der Hauptstadt von Nord-Sumatra: Medan.
Ihr Ruf ist wahrhaftig nicht der beste: laut, dreckig, mit unerträglichem Verkehr. Kurzum: eine Stadt, die man sofort wieder verlassen möchte. Doch ich finde, man kann der 3-Millionen-Stadt (wenn man den angrenzenden Seehafen Belawan dazurechnet, sind’s sogar doppelt so viele Einwohner) auch durchaus Positives abgewinnen: schöne Kolonialbauten, alte Traditionen, kuriose Kirchen und herzerwärmende Begegnungen mit freundlichen und stets lächelnden Menschen.
Begegnungen bei der großen Moschee
Die Große Moschee von Medan, Mesjid Raya Al-Mashun, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vom herrschenden Sultan von Deli erbaut. Die Kosten für den Bau betrugen 300.000 Gulden – viel Geld in der damaligen Zeit, entsprechend einem Zeitwert von ca. 4,5 Millionen Euro. Ein Drittel davon wurde vom chinesischen Millionär Tjong A Fie übernommen, der durch den Besitz von Plantagen und der Rekrutierung chinesischer Kulis zu Reichtum kam.
Auch heute wird mit Plantagen das große Geld gemacht. Damals mit Tee, Tabak und Kautschuk, heutzutage vor allem mit Ölpalmen. Durch deren flächendeckenden Anbau erreicht die Zerstörung von Tieflandregenwäldern einen traurigen Höhepunkt - übrigens nicht nur auf Sumatra. Zusammen mit dem Regenwald verschwinden Orang-Utans, Sumatra-Tiger, Sumatra-Nashörner und Sumatra-Elefanten. Doch dazu mehr in meinem nächsten Sumatra-Beitrag.
Am Gelände von der Moschee werden wir schüchtern von einer Gruppe einheimischer Studentinnen angesprochen, ob wir ein paar Minuten Zeit für ein Interview hätten. Sie haben von ihrem Professor die Aufgabe zugeteilt bekommen, Touristen zu interviewen. Doch schnell sind die eigentlichen Fragen nach unserer Herkunft, unserer Route in Indonesien und unserem bisherigen Eindruck von Sumatra vergessen. Denn als die Mädchen hören, dass Barbara aus unserer Reisegruppe, ca. 40-jährig, nicht verheiratet ist und keine Kinder hat, sind sie sprachlos und ungehemmt neugierig. Für sie ist diese freiwillig gewählte europäische Lebensweise undenkbar. Die Volksgruppe der Batak, etwas weiter südlich angesiedelt, definiert sich sogar so sehr über ihre Kinder, dass Eltern ihren eigenen Namen zugunsten dem ihrer Kinder verlieren. Denn die Batak werden nicht mit ihrem eigenen Vornamen angesprochen, sondern als Mama oder Papa in Kombination mit dem Namen eines ihrer Kinder. Unser lokaler Guide Ishan hat zum Beispiel eine Tochter namens Tina. Er wird also „Papa Tina“ gerufen – auch von seiner Frau. Sobald er Opa wird, wird dieser Anredetitel verwendet. „Opa Sowieso“. Ishan hat überhaupt erst vor kurzem in Erfahrung bringen können, wie seine Mutter mit Vornamen hieß – dieser wurde einfach nie verwendet.
Maimoon Palast - im Reich der Sultane
Gleich in der Nachbarschaft befindet sich der ebenfalls vom Sultan von Deli erbaute Maimoon Palast, in dem tatsächlich immer noch Nachkommen des Bauherrn leben. Besichtigen können wir daher nur den Thronsaal, die restlichen Räume sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Nicht nur in der Moschee, sondern auch hier müssen beim Eintreten nach strenger Sitte die Schuhe ausgezogen werden.
Der aktuelle (14.) Sultan von Deli kam 2005 nach dem Tod seines Vaters als Achtjähriger zu seinem Titel. Das jugendliche Alter spielt dabei keine Rolle - der Sultan ist ohnehin nur eine Repräsentationsfigur ohne jegliche politische Macht. Er lebt übrigens nicht auf Sumatra, sondern auf Sulawesi, woher seine Mutter stammt. Einmal im Jahr, meistens kurz vor Ramadan, kommt er nach Sumatra, um Audienz zu halten.
Vor dem Thron tummeln sich eine Schar „Sultanskinder“. Der Palast ist nämlich ein beliebtes Ausflugsziel für indonesische Schulklassen. Hier können sie für einige Zeit in alte Kostüme schlüpfen und für Schulfotos posieren. Keine Ahnung, wie es ihnen gelingt, nach ihrem Besuch, in diesem riesigen Kinderschuh-Haufen ihre eigenen herauszufischen.
An einer Wand im Thronsaal sind zwei kitschige, runde, wappenähnliche, goldene „Embleme“ eingearbeitet. Die Blätter und Blüten sollen die Tabakpflanze repräsentieren und erinnern an die damalige Plantagenzeit, von der die Sultansfamilie letztendlich sehr profitierte. Denn sie verpachteten ihr Land an die holländischen Pflanzer.
Die grüne Prinzessin und der Kanonen-Bruder
Am Palastgelände befindet sich auch ein kleines Karo-Batak Haus. Im Inneren befindet sich ein (halbes) Kanonenrohr. Dieses ist heilig, mit Blüten dekoriert, mit einer kleinen Schale Wasser davor, um die Kanone beim Beten zu „beträufeln“. Wenn man sein Ohr an ein am hinteren Ende befindliches Loch anlegt, hört man Stimmen, die bei Problemstellungen weiterhelfen – so heißt es zumindest. Es gibt natürlich eine Legende zu dieser Kanone. Eigentlich sogar mehrere Versionen. Eine gängige Version berichtet von einem Brüderpaar, das sich in eine Kanone respektive in einen Drachen verwandeln konnte. So verteidigten sie ihre Schwester, die wunderschöne grüne Prinzessin, als diese den Hochzeitsantrag des Sultans von Aceh ablehnte und ihn dadurch zum Angriff auf ihr Land provozierte. Die Kanone ist durch den heftigen Kampf heiß gelaufen und irgendwann in 2 Teile zerbrochen. Der eine befindet sich hier, der andere wurde durch die Wucht in die südlich gelegene Geburtsregion der Geschwisterkinder geschleudert, wo er auch heute noch liegt.
Giftgrün und lecker
Wenn man sich ein wenig Zeit lässt, findet man um den Palast herum viel zu entdecken. So werden zum Beispiel an einem Verkaufsstand Guaven verkauft. Geschält und granatapfelgrün gefärbt. Hättet ihr sie erkannt? Typisch, wie wir in den nächsten Wochen noch vielfach bemerken werden: Die Indonesier lieben es (giftig) bunt, vor allem ihr Essen.
Indonesische Glückskatzen
Es streunt eine Katze herum. Kleiner, dünner und zäher als ihre europäischen Artgenossen. Auffällig ist aber vor allem ihr Stummelschwanz. Und dieses Exemplar ist in Indonesien absolut keine Ausnahme. Das gibt uns Rätsel auf. Denn der Schwanz wirkt kupiert – natürlich Unsinn, denn hier kümmert sich keiner um diese Tiere oder deren Aussehen. Es handelt sich scheinbar um einen genetischen Defekt. Auf manchen indonesischen Inseln gelten diese kurzschwänzigen Katzen als "Glücksbringer" und werden tatsächlich gezielt gezüchtet.
Niederländische Erinnerungen am Unabhängigkeitsplatz
Rund um den Unabhängigkeitsplatz kann man die holländische koloniale Baukunst des frühen 20. Jahrhunderts bewundern wie kaum in einer anderen indonesischen Stadt: das Hauptpostamt, das alte Hotel De Boer, das in das moderne Dharma Deli Hotel integriert wurde, das Gebäude der Bank of Indonesia und das alte Rathaus. Die Niederlassung von Harrison & Crosfield, dem einst größten britischen Handelshaus in Südostasien, beherbergt heute neben dem englischen Generalkonsulat auch die P.T. London Sumatra, einen einflussreichen Ölpalmplantagen-Betreiber. Es herrscht ein Mordsverkehr. Ein Foto ohne Autos oder hunderte Motorräder – fast unmöglich!
Göttervielfalt im chinesischen Tempel
Sehenswert ist auch der größte buddhistisch-taoistische Tempel der Stadt (ev. sogar von ganz Sumatra): Vihara Gunung Timur. Der weitläufige Tempel besteht aus mehreren Räumen, Nischen und Ecken. Die große chinesische Gemeinde von Medan hat ihn mit unzähligen Götterstatuen ausgestattet. Laut den Taoisten ist der Mensch für seine tausende Probleme auch auf tausende Götter angewiesen. Der wichtigste Gott im Taoismus ist der Jadekaiser, der im Tempel Gunung Timur auch besonders geheiligt wird. Die einzelnen Götter sind praktischerweise nummeriert. Gott 1 prangert beim Eingang. Vor dem Tempel ein großer Platz mit einem kleinen Turm, wo scheinbar „Feueropfer“ abgelegt werden. Denn wenn man den von unzähligen Göttern bewohnten Tempel betritt, zieht man ein langes Stäbchen aus einem Köhler. Auf diesem ist eine Nummer vermerkt, sozusagen die Glücksnummer des Tages. Man erhält dann ein passendes Stück Papier, das angezündet dem passenden Gott geopfert wird.
Marienkirche oder Hindutempel?
Die katholische Marienkirche Velangkanni ist als solche kaum erkennbar. Sie sieht auf den ersten Blick aus wie ein hinduistischer Tempel: mit einem siebenstöckigen Turm und sehr bunt. Eine Laufschrift über dem Eingang. Kokospalmen bei der Eingangspforte. Daneben der Papst. Auf der Innenseite der beiden seitlichen Aufgänge wird Gott vermenschlicht dargestellt, wie er Sonne, Wasser, Erde, Planeten, Tiere und den Menschen schuf. Die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Wenn man die Kirche von vorne betrachtet, sollen die seitlich abgehenden gerundeten Aufgänge Gottes ausgebreitete Arme symbolisieren. Alle sind hier willkommen. Unabhängig von ihrem Glauben. Toleranz wird groß geschrieben.
Alles in allem konnte ich dieser Stadt durchaus etwas abgewinnen. Ja, klar, Medan ist nun mal eine indonesische Großstadt mit den dazugehörigen Schönheitsfehlern, aber wenn man genau hinsieht, sieht man vielleicht auch das ein oder andere Juwel funkeln.